Ziel der Untersuchung war eine umfassende Beschreibung und Analyse gängiger, vorwiegend negativer Wahrnehmungsmuster von Philosophie und geistiger Bildung im klassischen Athen.

Research

Forschungsmethodik, Forschungsformate und Vorgehen

Seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. hat sich mit Philosophen und Rhetoriklehrern in Athen ein höheres, geistigen Studien gewidmetes Bildungswesen etabliert. Dieser Prozess und der mit ihm verbundene kulturelle Umbruch war begleitet von einem skeptischen, oft kritischen zeitgenössischen Diskurs. Ziel der Dissertation von Herrn Dreßler war die Rekonstruktion gängiger philosophie- und bildungskritischer Topoi, die diesen Diskurs ausmachten. Bestimmend für die Untersuchung waren dabei die folgenden Fragestellungen:

  • Welche Kritikpunkte waren es im Einzelnen, die gegenüber geistiger Bildung geäußert wurden?
  • Welche negativen Folgen für den einzelnen wie für die Gemeinschaft sah man mit bestimmten Unterrichtsformen und Bildungsinhalten verbunden?
  • Welche Wirkung hatte der untersuchte kritische Diskurs auf die Entwicklung von Philosophie und geistiger Bildung in Athen sowie auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von deren Vertretern?

Zu erklären ist die Kritik dabei sowohl mit Bezug auf das tatsächliche Denken und Wirken der Gelehrten als auch vor dem Hintergrund der politischen, sozialen und Mentalitätsgeschichte des klassischen Athen. Philosophiehistorische und altgeschichtliche Fragestellungen greifen dabei Hand in Hand.

Aufgrund der Quellenlage ist eine substanzielle Untersuchung der Fragestellung für die klassische Zeit nur für die Polis Athen zu leisten. Grundlage der Untersuchung war eine breite Sammlung und Auswertung zeitgenössischer Quellen der verschiedensten Gattungen. Thematisiert wurde dabei neben dem Standpunkt nicht-philosophischer Texte, die kritisch auf das Phänomen geistiger Bildung in der Stadt Bezug nehmen, auch die Auseinandersetzung philosophischer Texte mit der Problematik.

 

Ergebnisse

Aus der Untersuchung haben sich drei wesentliche Themen ergeben, die die unterschiedlichen Bereiche geistiger Bildung im klassischen Athen sowie ihre je unterschiedliche Wahrnehmung im zeitgenössischen Diskurs widerspiegeln:

  • Macht des Logos: Dass mit der großen (und nun intensiv reflektierten) Wirkungsmacht von Sprache und Rhetorik auch negative Ziele verfolgt werden konnten, ist von den Zeitgenossen erkannt und kritisch diskutiert worden. Eine gängige Befürchtung war dabei, dass die politischen Redner den Einfluss, der ihnen insbesondere kraft ihrer rhetorischen Bildung zukam, zu eigennützigen und gemeinwohlschädlichen Zielen missbrauchen würden. Zugleich sah man in den Argumentationskünsten von Sophisten und Philosophen das Potenzial, traditionelle Annahmen über die Welt, die Götter etc. wie auch gängige Normen und Werte in Frage zu stellen und zu unterminieren.
  • Sinn und Nutzen geistiger Bildung: So manches, was die Philosophen dachten und taten, galt den Zeitgenossen allgemein als sinn- und nutzlos. Eine nähere Beschäftigung damit erschien also nicht als lohnenswert, zumal sie der Vorbereitung der jungen Männer (die wichtigste Zielgruppe der Philosophen) auf ihre zukünftige Rolle im gesellschaftlichen und politischen Leben entgegenstand. Wie gängig die Frage nach der Relevanz geistiger Bildung war, zeigt sich zugleich daran, dass auch ein Rhetoriklehrer wie Isokrates, der für ein am praktischen Leben orientiertes Bildungsprogramm stand, sich damit auseinanderzusetzen hatte.
  • Philosophie und Asebie: Der Vorwurf der Gottlosigkeit entwickelte sich geradezu zu einem Schlagwort gegenüber den Philosophen. Es richtete sich zum einen gegen die Theorien der Naturphilosophen, die das Wirken der olympischen Götter in der Natur und damit (wie man meinte) auch deren Existenz in Frage stellten. Zum anderen beförderten auch die epistemologischen und kulturhistorischen Fragen der Sophisten den wachsenden Zweifel an der Existenz der Götter. Eben darin sahen viele, insbesondere vor dem Hintergrund der sozialen Funktion der Religion in antiken Gesellschaften, eine Bedrohung für die Normen und Werte der Polis-Gemeinschaft.

 

 

Diskussion der Ergebnisse im Lichte der aktuellen Forschung

Das Bild der Forschung zur gesellschaftlichen Wahrnehmung der Philosophen im klassischen Athen stützt sich nach wie vor vornehmlich auf die komisch-überspitzten Darstellung der aristophanischen Wolken. Die umfangreiche Auswertung verschiedenster Quellen hat gezeigt, dass deren Darstellung der Philosophen als ‚Gefahr für die Jugend‘ Teil einer eingehenden, nuancierten und ernsthaften zeitgenössischen Diskussion über das neue Bildungswesens gewesen ist, die dessen Entwicklung (oft vorwiegend kritisch) begleitet und reflektiert hat. Zumeist ging es dabei nicht primär um einzelne Theorien, sondern um die (befürchteten) Folgen des neuen Unterrichtsangebots für das gesellschaftliche Leben und kollektive Normen und Werte. Insgesamt stand dieser Diskurs der Entwicklung der Philosophie in Athen nicht entgegen, sondern war vielmehr (als komplementäre Begleiterscheinung) Ausdruck deren Erfolges. Die Kritik war oft mit einem impliziten Anspruch verbunden, welche Funktion geistige Bildung in der und für die Gesellschaft idealerweise erfüllen sollte. Die Themen des philosophie- und bildungskritischen Diskurses haben dabei auch als Argumentationsmaterial in der internen Auseinandersetzung zwischen den Vertretern konkurrierender Philosophie- und Bildungskonzepte gedient. Und für die Philosophen hat die Auseinandersetzung mit der von außen an sie herangetragenen Kritik außerdem eine wichtige Funktion für die Entwicklung, Schärfung und protreptischen Darstellung des eigenen Philosophiekonzepts erfüllt.

 

 


 

Die Dissertation wurde 2012 erfolgreich abgeschlossen. Eine Zusammenfassung der Arbeit wurde in der Zeitschrift eTopoi publiziert:  “Gefährlich und nutzlos? Kritik an Philosophie und Rhetorik im klassischen Athen“, in: Volume 2 (2012/2013), eTopoi. Journal for Ancient Studies, 2 (Apr 2013), 165–186.

Die Ergebnisse der Dissertation wurden 2014 als Monographie in der Reihe “Beiträge zur Altertumskunde” veröffentlicht: Jan Dreßler, Wortverdreher, Sonderlinge, Gottlose. Kritik an Philosophie und Rhetorik im klassischen Athen, Beiträge zur Altertumskunde 331, Berlin u. Boston: De Gruyter 2014.