Der Vortrag konzentriert sich auf die Rolle von Wanderungsnarrativen in der frühen
griechischen Geschichte. Die Vorstellung, dass “Völker”, “Stämme” bzw. diverse soziale
Gruppen relativ häufig ihre Wohnsitze veränderten, war in der intentionalen Geschichte
der Griechen fest verankert. Sie begegnet uns bereits ausgeprägt in den ‚Historien’
Herodots und spielte eine besondere Rolle in der Universalgeschichtsschreibung des
Ephoros. Zwei besonders wichtige Narrative, das der Dorischen und der Ionischen
Wanderung, werden im Vortrag exemplarisch analysiert.

Dabei zeigt sich, dass die wandernden Gruppen als identisch mit später existierenden
angesehen wurden. Die politischen, sozialen und kulturellen Identitäten waren also in
den Wanderungsnarrativen reflektiert. Diese dienten somit dazu, den
Vergangenheitsraum der Griechen zu strukturieren, Nah- und Fernbezüge, Freundschaft
und Feindschaft zu erklären und Veränderungen zu begründen. Die in der Regel ex post
konstruierten Berichte weisen auf hinter ihnen liegende Grunderfahrungen von häufig
mit Gewalt verbundenen Migrationen. Sie gehören in die Entstehungszeit der älteren
Narrative, die so genannte Griechische Kolonisation (8.-6.Jh.).

Charakteristisch ist, dass die Griechen ihre Narrative auch nutzten, um von ihnen als
fremd klassifizierte Gruppen (“Barbaren”) in ihren Vergangenheitsraum einzubeziehen.
Dies war deshalb von größter Bedeutung, weil diese das ihrerseits teilweise
übernahmen. Das galt besonders für die Römer. Nicht zuletzt deshalb war den alten
griechischen Wanderungsnarrativen ein beachtliches Weiterleben beschieden. Selbst
die im 19. Jh. einsetzende moderne althistorische Forschung konnte sich dem nicht
entziehen.